1. Auf den ersten Blick: Die Verkündigung Lk 1,26-38

Lassen wir uns inspirieren von der christlichen Kunst. Wir kennen die vielen Darstellungen der Verkündigungsszene, vor allem auf den gotischen Altarbildern und bei Fra Angelico. Maria ist in betender Haltung und hat vor sich ein aufgeschlagenes Buch: die Bibel. Sie meditiert das Wort Gottes (lectio divina) und ist so ganz und gar empfänglich. So trifft der Engel sie an. Das ist eine bemerkenswerte Interpretation. Die Verkündigung hat sozusagen einen Vorlauf: Durch ihren Umgang mit Gottes Wort, durch ihr Vertrautsein damit ist Maria disponiert, das WORT aufzunehmen und ihr Fiat zu sagen. Erinnern wir uns an den Psalm 119, der langen Meditation über die Weisung Gottes: „Ich will laufen auf dem Weg deiner Gebote, denn mein Herz machst du weit“ (V. 32). Maria ist im Herzen ganz offen für das, was Gott ihr sagen will und von ihr verlangt. Sie lebt aus dem Wort Gottes. Der Evangelist Lukas zeigt das sehr schön: „Maria aber bewahrte all diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen“ (2,19: Besuch der Hirten), und: „Seine Mutter bewahrte all diese Worte in ihrem Herzen“ (2,51: Zwölfjähriger Jesus im Tempel). Auch Apg 1,13-14, die betende Urgemeinde, betont dies: „Sie alle verharrten einmütig im Gebet, zusammen mit den Frauen und mit Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern.“ Da ist es wieder die Deutung der Ikonographie, welche die Szene darstellt im Kreis um Maria, die das Buch des Wortes Gottes auf ihrem Schoß hält.
Einen anderen Aspekt betont die Ikonographie der Ostkirche. Da trifft der Verkündigungsengel die Jungfrau Maria an, wie sie beim Wasserholen am Brunnen ist. Wir können sagen: die Erfüllung der täglichen Alltagspflichten, das treue Tun dessen, was uns aufgetragen ist, macht uns bereit, Gottes Willen zu erkennen und zu tun.

2. Begnadet

„Sei gegrüßt, du Begnadete“, spricht sie der Engel an, chaire im griechischen Urtext, was die übliche Grußformel ist. Chaire bedeutet wörtlich: Freue dich! Die Freude ist ein weiterer Aspekt beim Umgang mit Gottes Wort. „Ich ergötze mich an deinen Geboten, die ich liebe“, heißt es wieder in Ps 119 (V. 47). Marias Freude kommt von Gott; er ist ihre Freude. Sie lebt in stiller Freude, sicher, dass Gott ihr wohlgesonnen ist. „Er hat geschaut auf die Niedrigkeit seiner Magd“, wird sie im Magnificat sprechen. Sie ruht in Gott. Die Anrede des Engels „Du Begnadete“ betont den Vorrang der Gnade Gottes vor allem, besonders vor jeder menschlichen Leistung. Was Maria ist, was sie sein darf, das ist sie durch die Gnade, nicht durch eigenes Verdienst. Am Fest der Unbefleckten Empfängnis Mariens beten wir im Tagesgebet: „Du hast die selige Jungfrau Maria schon im ersten Augenblick ihres Daseins vor jeder Sünde bewahrt, um deinem Sohn eine würdige Wohnung zu bereiten.“ Was Maria hat, all das, was wir an ihr bewundern, hat sie von Gott und ist sein Geschenk. Im lateinischen Antwortgesang auf die Kurzlesung der Vesper am 8. Dezember heißt es: „In hoc cognovi quia voluisti me. – Daran erkenne ich, dass Du mich gewollt/erwählt hast.“ Alles, was gut und schön in unserem Leben ist, kommt von Gott. „Das Gute, das man bei sich sieht, Gott zuschreiben, nicht sich selbst“, sagt der hl. Benedikt (RB 4,42). Gnade bedeutet: „der Herr ist mit dir“ (Lk 1,28). So dürfen wir uns Maria ganz von der göttlichen Gnade umfangen vorstellen, das macht ihre ganze, vollkommene Schönheit aus. „Tota pulchra es Maria. – Ganz schön bist du, Maria“, singen wir im Stundengebet. Die Kunst hat den Typ der Schönen Madonnen hervorgebracht: Maria auch äußerlich voller Anmut. Aber die äußere Schönheit verdankt sich der inneren; die Schönheit des inneren Menschen strahlt nach außen. Wirklich schön ist das, was Gott in uns wirkt. Der hl. Paulus sagt es ganz klar: „Durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin“ (1 Kor 15,10). Es ist auch bedeutsam, dass der Engel des Weiteren spricht: „Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast bei Gott Gnade gefunden“ (V. 30). Ein Mensch, der in der Gnade Gottes lebt, braucht sich nie mehr zu fürchten, weil „Gott mit ihm“ ist (vgl. V. 28).

Aber dann gilt auch: Die Gnade habe ich nicht für mich selbst; sie ist mein Auftrag von Gott. An die Erwählung Mariens ist die Zumutung, das Opfer geknüpft: „Du wirst empfangen“ und darauf ihre Frage: „Wie soll das geschehen?“ (V. 31.34). Maria scheint zu ahnen, was ihr bevorsteht. „Ich bin die Magd des Herrn“, antwortet sie (V. 38), doúle kyiou, wörtlich „Sklavin des Herrn“, wobei wir an den Philipperhymnus denken dürfen (Phil 2,7), wo es heißt, dass Christus uneretwegen „die Gestalt eines Sklaven annahm“. Dies würde bedeuteten, dass Maria ihm als Erste nachfolgt auf dem Weg des Kreuzes.

3. Die Bedeutung des Glaubens

Marias Fiat ist ein Glaubensakt, wie uns Elisabeth bestätigt: „Selig, die geglaubt hat“ (Lk 1,45). In vollem Glauben lässt Maria damit ihr Leben in die Hände Gottes los; sie übergibt sich ganz und gar Gott. Das zeigt das lateinische credere sehr schön: cor dare – „Gott das Herz geben“. „Nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir!“ Ein Blick auf Hebr 11-12 (Wolke der Glaubenszeugen) zeigt uns die ganze Bedeutungsfülle. Jesus ist „Urheber und Vollender des Glaubens“, indem er das Kreuz auf sich genommen hat (Hebr 12,2). An ihm hängt jeder Glaube, auch der Mariens. Darum nennt das 2. Vat. Konzil sie „vor anderen seine großmütige Gefährtin und die demütige Magd des Herrn“ (LG 61). Der Hebräerbrief definiert den Glauben als ein Nicht-Sehen (11,1; vgl. 11,8: Abraham, der „wegzog ohne zu wissen, wohin er kommen würde“), indem man sich auf die Verheißung Gottes verlässt (11,9.11.13): also Gott glaubt. In ihrem Magnificat singt Maria von Abraham und der Verheißung, die an ihn erging „Lk 1,55) und stellt sich damit in die lange Reihe der Glaubenden: Gott „denkt n sein Erbarmen, das er unseren Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.“ Es ist gerade Abraham, an dem wir die ganze Konsequenz des Glaubens erkennen: loslassen – wegziehen – geprüft werden, indem er das Liebst loslässt. Maria, die von „unseren Vätern“ spricht (Lk 1,55), zeigt uns: „Wer glaubt, ist nie allein“ (Benedikt XVI.); er steht in dieser „Wolke von Zeugen“ und in der Gemeinschaft der Kirche.

4. Glaube und Prüfung

Die Prüfung bzw. Erprobung gehört nach Ausweis der Bibel wesentlich zum Glauben. Das zeigt vor allem Abraham, de aufgetragen wird, seinen Sohn Isaak zu opfern. 1 Petr 1,6f spricht grundsätzlich davon: Es „muss sein, dass ihr durch mancherlei Prüfungen betrübt werdet. Dadurch soll sich eure Standfestigkeit im Glauben … herausstellen“. Letztlich ist das ein Geheimnis, das wir akzeptieren müssen. Marias Prüfung begann damit, als sie Gott ihr Fiat gab. Ich brauche das nur anzudeuten, weil wir alle es ja nur zu gut kennen. Die Reihe der Prüfungen begann für Maria, als der Engel sie verließ (Lk 1,38); wir deuten dieses „Verlassen“ als im Glauben auf sich gestellt sein: Die erste schwere Prüfung, die sie mit Josef besteht (er „beschloss, sich von ihr zu trennen“, Mt 1,19); die Herbergssuche und die Geburt im Stall von Betlehem, wodurch ihr endgültig aufgeht, dass der Messias kein „König“ sein wird; die Flucht nach Ägypten (Mt 1,13-15); die Weissagung Simeons, dass ein Schwert ihre Seele durchbohren werde (Lk 2,35); der Zwölfjährige, der im Tempel bleibt (Lk 2,41-52). Besonders schwer war, was Mk 3,20-21 und 31-35 berichtet wird: Jesu öffentliches Wirken hat begonnen; er predigt in einem Haus. Da wollen ihn seine Angehörigen „mit Gewalt zurückholen“, weil sie meinen, er sein „von Sinnen“. Dann predigt er wieder in einem Haus. Man meldet ihm: „Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und suchen dich. Er erwiderte: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ Da muss Maria ihren Sohn loslassen, um den sich die neue Familie Gottes bildet. Erwähnt sei noch die Stelle in der Johannespassion (Joh 19,25-27), wo berichtet wird, dass Maria unter dem Kreuz ihres Sohnes steht – ihr grausamster Schmerz.

5. Den Glauben verkünden

Der Glaube gehört nicht uns, ist bei all seiner Intimität keine Privatsache. Er muss weitergegeben, verkündet werden. Entsprechend wird seit alter Zeit der Besuch Marias bei Elisabeth gedeutet (Lk 1,39-56). Es heißt, dass Maria zu Elisabeth „eilt“, was andeutet, dass die Glaubensweitergabe etwas Drängendes ist, eine unbedingte Notwendigkeit. Paulus sagt einmal: „Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkündige!“ Er fügt hinzu, dass da ein „Zwang“ besteht, dass er gar keine Wahl hat, „es ist ein Dienst, der mir anvertraut wurde“ (1 Kor 9,16-17). In gewisser Weise gilt das von uns allen, die wir getauft und gefirmt sind. Maria vermittelt uns das. Sie ist die erste Missionarin und gibt die „Freude des Evangeliums“ direkt weiter. Dabei gibt sie auch ihre Freude weiter. Glaube und Freude gehören untrennbar zusammen. Die ganze Szene der Heimsuchung ist in Freude getaucht. Der Glaube will froh machen; er ist keine Last, auch wenn er uns in die Pflicht nimmt. „Mit Jesus Christus kommt immer – und immer wieder – die Freude“, schreibt Papst Franziskus in Evangelii gaudium, und er spricht von „einer neuen Etappe der Evangelisierung, die von dieser Freude geprägt ist. Das war im Jahr 2013. Inzwischen ist viel passiert und es droht uns die Freude abhanden zu kommen – was ein Verrat am Evangelium wäre. Wir müssen uns sehr hüten. Im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte ist oft vom „Zeugnis“ die Rede. Der Glaube verlangt nach Zeugen, nach Menschen, die ihn in ihrem Leben und in ihrem ganzen Verhalten aufleuchten lassen, die den Glauben sozusagen ausstrahlen. Anders findet er bei den Menschen keine Resonanz. „Du kannst in anderen nur entzünden, was in der selber brennt“, hat der hl. Augustinus gesagt. Das ist eine tiefe Wahrheit. Und Maria zeigt uns noch etwas Wichtiges bei ihrem Besuch bei Elisabeth und Zacharias: Sie dient. Die beiden sind schon alt, sie brauchen Unterstützung. Zum Glauben gehört untrennbar die praktizierte Liebe. 2 Tim 1,13 nennt „Glaube und Liebe in Christus Jesus“ als grundlegend. Der Jakobusbrief besteht auf Glaube und Tat (Jak 2,14-26) und geht so weit zu sagen, dass „der Glaube für sich allein“ sei „tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat“. Maria hat geglaubt und geliebt.

Schauen wir auch auf die Kana-Perikope Joh 2,1-12. Auch da sehen wir Maria als die Glaubende. Als Jesus zu ihr sagt: „Frau, was willst du von mir?“, bleibt sie unbeirrt, der Glaube gibt
nicht auf: „Was er euch sagt, das tut!“ Sie zeigt uns auch, wie der Glaube ein Einfühlungsvermögen und eine Sensibilität vermittelt, die nicht alltäglich sind. „Sie haben keinen Wein mehr“, stellt sie fest, und benennt damit eine Notlage. Wie peinlich wäre es gewesen, wenn die Hochzeit auf diese Weise zu Ende gegangen wäre. Der Glaube setzt sich ein für die Anderen, er sucht mit ihnen gemeinsam Wege, um die Not zu beheben, auch eine solche Not, die ja nicht die Schlimmste ist, aber für die Betroffenen schlimm genug. Der Glaube ist alltäglich, er betrifft das Leben in jeder Beziehung, das zeigt uns Maria.

6. Maria und der Heilige Geist

Die Tradition nennt Maria die Braut des Heiligen Geistes, was sich auf die vom Hl. Geist gewirkte Empfängnis Jesu bezieht: „Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten.“ Die beiden Worte „über dich kommen“ und „überschatten“ bedeuten Kommen und Bleiben. Maria lebt in der Intimität Gottes durch den Hl. Geist. Denken wir an Gal 4,6, wo Paulus sagt, dass wir Kinder Gottes sind und „Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gegeben hat, den Geist, der ruft: Abba, Vater!“ Das Leben Mariens ist ohne den Hl. Geist nicht denkbar. Lukas spannt den Bogen von der Verkündigung bis zum Beginn der Kirche. Da heißt es am Anfang, dass sie durch den Hl. Geist empfangen werde und in der Apostelgeschichte wird sie uns im Kreis der Jünger gezeigt, die betend auf das Herabkommen des Hl. Geistes warten. Weil Maria den Hl. Geist im Herzen trägt und mit ihm in lebendigem Kontakt ist, kann sie ihr Leben bestehen, das Zumutung und Last genug kannte. Im Hl. Geist konnte sie mit der Aussage Jesu umgehen und sie schließlich verstehen: „Wer ist meine Mutter …?“ (Mk 3,34). In der Kraft des Hl. Geistes konnte sie dann auch den Kreuzweg ihres Sohnes mitgehen und unter seinem Kreuz stehen, ohne den Glauben an die Liebe Gottes zu verlieren.
Wir haben unsere Betrachtung mit einem Blick auf die Ikonographie begonnen und wollen sie auch mit einem solchen beenden. Ich denke an die Darstellung Marias als Typos der Ecclesia unter dem Kreuz. Gemeinsam mit dem römischen Soldaten, den die Tradition Longinus nennt, steht sie dort. Nachdem der Soldat die Seite Jesu und sein Herz durchbohrt hat, empfängt Maria mit dem Kelch die Sakramente der Taufe und der Eucharistie. Sie stellt die Kirche dar, die Gemeinschaft der Gläubigen, die aus der Hingabe ihres Herrn das Leben empfängt.

Februar 02, 2023 — Williams Onana